Hasardeure oder Grenzgänger?
- andreaschich

- 31. Aug.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Sept.
Ein Plädoyer für differenzierte Betrachtung
Nach tragischen Unfällen im Bergsport wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob Menschen, die sich extremen Herausforderungen stellen, grundsätzlich Hasardeure seien. Als Leadership- und Bewusstseinstrainerin möchte ich dieser pauschalen Beurteilung widersprechen - aus tiefer Überzeugung und aus Respekt vor der Individualität jedes Menschen.
Jeder Mensch ist einzigartig
Wir leben in einer Zeit, in der schnell kategorisiert und verallgemeinert wird. Doch Menschen lassen sich nicht in Schubladen stecken. Jeder von uns trägt seine eigene Geschichte, seine Prägungen, seine Träume und Ängste in sich. Was für den einen rücksichtslose Sensationslust ist, kann für den anderen ein bewusster Weg zur Selbsterkenntnis sein.
Wenn wir alle Extremsportler oder Menschen, die bewusst an ihre Grenzen gehen, über einen Kamm scheren, werden wir der Komplexität menschlicher Motivation nicht gerecht. Wir berauben sie ihrer Individualität und machen sie zu Klischees.
Das Spektrum menschlicher Motivation
Menschen bewegen sich auf einem breiten Spektrum, wenn es um den Umgang mit Herausforderungen geht:
Der Komfortzone-Verharrer meidet jede Form von Risiko oder Herausforderung. Er bleibt in bekannten Mustern, vermeidet Unsicherheit - und damit oft auch persönliches Wachstum. Hier entsteht eine andere Art der Stagnation: die Erstarrung in der vermeintlichen Sicherheit.
Der Sensation Seeker wird von unbewussten Impulsen getrieben. Frühe Erfahrungen haben in ihm eine Art “Hormon-Hunger” geschaffen - er braucht immer intensivere Erlebnisse, um sich lebendig zu fühlen. Diese Menschen handeln oft aus einem Mangel heraus, ohne die möglichen Konsequenzen wirklich zu durchdenken. Der Adrenalinkick wird zum Selbstzweck.
Der bewusste Grenzgänger hingegen hat sich mit sich selbst auseinandergesetzt. Er kennt seine Ängste, seine Grenzen, seine Geschichte. Wenn er sich für eine extreme Herausforderung entscheidet, tut er es mit vollem Bewusstsein - nicht um etwas zu beweisen oder eine innere Leere zu füllen, sondern um zu wachsen.
Was einen echten Grenzgänger ausmacht
Der Begriff “Grenzgänger” beschreibt Menschen, die bewusst ihre persönlichen, physischen und mentalen Grenzen ausloten - nicht für die Show oder den oberflächlichen Kick, sondern für eine tiefgreifende Selbsterfahrung:
Selbstwirksamkeit erleben: Das intensive Erleben der eigenen Fähigkeiten und die Bestätigung, auch extreme Herausforderungen meistern zu können. Es stärkt das Vertrauen in sich selbst auf einer sehr grundlegenden Ebene.
Flow-Zustand erreichen: In extremen Situationen erreichen viele Menschen einen Zustand totaler Konzentration und des Aufgehens in der Tätigkeit. Zeit, Sorgen und das eigene Ego treten in den Hintergrund. Dieser “Flow” wird als zutiefst befriedigend und transformativ empfunden.
Intensive Lebendigkeit spüren: Im Angesicht von realer Herausforderung und der Notwendigkeit, absolut präsent zu sein, fühlen sich diese Menschen paradoxerweise besonders lebendig. Alle Sinne sind geschärft, das Leben wird auf seine Essenz reduziert.
Angst bewusst begegnen: Es geht nicht um die Abwesenheit von Angst, sondern um die bewusste Konfrontation und das Management der eigenen Angst. Diesen Prozess zu beherrschen, ist ein zentraler Teil der lebensverändernden Erfahrung.
Warum diese Unterscheidung so wichtig ist
Als jemand, die täglich mit Menschen arbeitet, die in der Führung oder im Leben über sich hinauswachsen wollen, erlebe ich immer wieder, wie fatal es ist, wenn wir uns selbst oder andere überfordern - oder umgekehrt, wenn wir uns in der Komfortzone einrichten und nicht wachsen.
Wenn wir zu extrem handeln, ohne bewusst zu sein, schaltet unser Nervensystem auf Überlebensmodus. In diesem Zustand können wir weder klar wahrnehmen noch die gemachten Erfahrungen sinnvoll in unser Leben integrieren. Wir sammeln dann nur Erlebnisse, aber keine Erkenntnis.
Wenn wir aber zu sehr in der Komfortzone verharren, verpassen wir die Chance auf Wachstum und Entwicklung. Wir bleiben unter unseren Möglichkeiten und entwickeln oft eine lähmende Angst vor Veränderung.
Der Weg der bewussten Entwicklung
Aus meiner Arbeit als TrainerIn weiß ich: Wahre Entwicklung geschieht nicht in der Überforderung, aber auch nicht in der Stagnation, sondern in der bewussten Begegnung mit unseren Grenzen.
Es geht nicht darum, keine Risiken einzugehen oder immer in der Komfortzone zu bleiben. Es geht darum, mit sich selbst verbunden zu bleiben, wenn wir uns herausfordern. Es geht darum, dass wir nicht für andere, für Anerkennung oder aus äußerem Druck handeln, sondern aus einer inneren Klarheit heraus.
Menschen, die bewusst als Grenzgänger unterwegs sind, nehmen sich als ganze Person mit in die Erfahrung hinein. Sie bleiben präsent, können reflektieren und die gemachten Erfahrungen in ihr Leben integrieren. Sie nutzen die Herausforderung als Werkzeug für ihre persönliche Entwicklung.
Ein Plädoyer für Differenzierung
Anstatt Menschen, die sich extremen Herausforderungen stellen, pauschal als Hasardeure zu bezeichnen, sollten wir genauer hinschauen. Sollten wir fragen: Was treibt Menschen wirklich an? Handeln sie aus Bewusstheit oder aus unbewussten Impulsen? Suchen sie oberflächliche Sensation oder tiefe Transformation?
Die Antwort liegt nicht in der Aktivität selbst, sondern in der Art, wie wir sie angehen.
Echte Grenzgänger sind keine Hasardeure - sie sind bewusste Lernende, die extreme Situationen als Labor für persönliche Entwicklung nutzen. Sie unterscheiden sich fundamental von jenen, die vom Adrenalinkick getrieben sind oder in der Komfortzone verharren.
Die entscheidende Frage
Die Frage sollte nicht lauten: “Sind Extremsportler Hasardeure?”
Die Frage sollte lauten: “Wie bewusst gehen wir mit unseren Herausforderungen um?”
Denn in dieser Bewusstheit liegt der Unterschied zwischen rücksichtslosem Risiko und mutiger Entwicklung. Zwischen Flucht vor sich selbst und dem Weg zu sich selbst. Zwischen Stagnation und Wachstum.
Jeder Mensch verdient es, als Individuum gesehen zu werden - mit seinen einzigartigen Motivationen, Träumen und seinem ganz persönlichen Weg zum Wachstum.
Für alle, die mutig und bewusst ihren eigenen Weg gehen - jenseits von Pauschalisierungen und Vorurteilen.





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